digitales
PROGRAMMHEFT
MÖLLN 92/22
von Nuran David Calis
Depot 2
Uraufführung: 08. April 2022
»Die Perspektive der Betroffenen muss in den Vordergrund. Sie muss im Bildungssystem auftauchen. Wir müssen die Bildungs-Bausteine neu entwickeln, neu definieren. Wir müssen uns klar sein, dass wir Traumata haben, dass wir traumatisiert sind. Wir müssen diese Gesellschaft davon überzeugen, dass die Perspektive der Betroffenen interessanter und sympathischer ist als die der Täter. Wir müssen sie davon überzeugen, dass die Täterperspektive bis heute nur Leid gebracht hat und versuchen, die Opferperspektive zu stärken, aber auch zeigen, dass das Wort Opfer nicht durch Schwäche definiert werden darf, sondern eher durch Stärke.«
INHALTSVERZEICHNIS
Besetzung
ZUM STÜCK
2022 werden dreißig Jahre vergangen sein, seitdem der Brandanschlag auf das Haus der Familie Arslan in Mölln verübt wurde. Die Rechtsextremen töteten drei Menschen: Die Großmutter Bahide Arslan, ihre zehnjährige Enkelin Yeliz Arslan und die vierzehnjährige Cousine Ayşe Yılmaz, die zu Besuch aus der Türkei war. Anfang der 1990er-Jahre – in einer Zeit, in der Eingewanderte noch »Gastarbeiter« und »Asylanten« genannt wurden, – war der Anschlag in Mölln kein Einzelfall. Rechtsextreme wüteten öffentlich und unter Anfeuerung von Schaulustigen; in Hoyerswerda, Rostock oder Solingen. Das dokumentarische Stück MÖLLN 92/22 widmet sich mittels Gesprächen und Interviews der Geschichte der Familie Arslan und Yılmaz. Das längst vergangene bundesrepublikanische Deutschland wird aus der Perspektive der Eingewanderten und von Rassismus Betroffenen erzählt. Einer Perspektive, die in der deutschen aktiven Geschichtsschreibung bislang kaum vorkam. Die Inszenierung MÖLLN 92/22 öffnet den Raum für diese diskursive Auseinandersetzung mit künstlerischen Mitteln. Eine Linie zwischen dem damals und dem heute wird gezogen innerhalb derer deutlich wird, dass rechtsradikale Strukturen und Rassismus immer noch tödlich sind.
Nuran David Calis erarbeitete am Schauspiel Köln die Keupstraßen-Trilogie (DIE LÜCKE, GLAUBENSKÄMPFER und ISTANBUL) sowie HERERO_NAMA und VERHAFTUNG IN GRANADA. In seinen Inszenierungen bringt er oft Expert*innen und Schauspieler*innen zusammen.
Nuran David Calis erarbeitete am Schauspiel Köln die Keupstraßen-Trilogie (DIE LÜCKE, GLAUBENSKÄMPFER und ISTANBUL) sowie HERERO_NAMA und VERHAFTUNG IN GRANADA. In seinen Inszenierungen bringt er oft Expert*innen und Schauspieler*innen zusammen.
Video-Interviews mit Karnik Gregorian
Nach der Wiedervereinigung häuften sich rechtsradikale Anschläge und Übergriffe.
Wie empfanden Sie diese Zeit?
İmran Ayata
Omid Nouripour
Dr. Massimo Perinelli
DR. Mehmet Gürcan Daimagüler
Hans-Christian Ströbele
Prof. Dr. Matthias Quent
Manuela Bojadžijev
Annette Ramelsberger
Wie haben Sie von dem Anschlag in Mölln 1992 erfahren?
Hans-Christian Ströbele
Omid Nouripour
Dr. Massimo Perinelli
Katharina Warda
DR. Mehmet Gürcan Daimagüler
Konstantin von Notz
Cem Özdemir
Manuela Bojadžijev
Kutlu Yurtseven
Wie haben Politik und Gesellschaft auf die Anschläge reagiert?
İmran Ayata
Konstantin von Notz
Prof. Dr. Matthias Quent
Manuela Bojadžijev
DR. Mehmet Gürcan Daimagüler
Hans-Christian Ströbele
Cem Özdemir
Dr. Massimo Perinelli
Katharina Warda
Kutlu Yurtseven
Hat der Anschlag in Mölln ihr Leben beeinflusst?
İmran Ayata
Omid Nouripour
Prof. Dr. Matthias Quent
Manuela Bojadžijev
DR. Mehmet Gürcan Daimagüler
Hans-Christian Ströbele
Cem Özdemir
Dr. Massimo Perinelli
Katharina Warda
Kutlu Yurtseven
Haben sich seit dieser Zeit Gesellschaft und Politik verändert?
İmran Ayata
Cem Özdemir
Kutlu Yurtseven
Konstantin von Notz
Katharina Warda
Wo stehen wir heute?
İmran Ayata
Omid Nouripour
Manuela Bojadžijev
DR. Mehmet Gürcan Daimagüler
Konstantin von Notz
Dr. Massimo Perinelli
Katharina Warda
Welche Veränderungen braucht es noch?
İmran Ayata
Prof. Dr. Matthias Quent
Manuela Bojadžijev
DR. Mehmet Gürcan Daimagüler
Cem Özdemir
Dr. Massimo Perinelli
Katharina Warda
Kutlu Yurtseven
Wie sollten wir erinnern?
İMRAN AYATA
Konstantin von Notz
DR. Mehmet Gürcan Daimagüler
Hans-Christian Ströbele
Katharina Warda
Kutlu Yurtseven
»Sicherheit bedeutet für mich: Ich kann aus der Tür rausgehen, ohne Bedenken durch die Straßen laufen, ohne Bedenken in den Bus einsteigen, ohne Bedenken meinem Kind Geld in die Hand geben und sagen: ›Hier, geh mal Brot kaufen bei Penny nebenan‹. Das bedeutet für mich Sicherheit. Sicherheit bedeutet für mich aber auch: Wenn ich an verschiedenen Interventionen beteiligt bin, nicht befürchten zu müssen, dass ich angegriffen werden könnte. All das zeigt mir, dass ich nicht in einem Staat lebe, in dem ich tatsächlich Sicherheit fühle, sondern mir Sicherheit erkämpfe. Und genau das geht einfach nicht. Man kann nicht von der Bevölkerung erwarten, dass sie für Sicherheit kämpfen muss. Dafür muss ein Rechtsstaat sorgen. Hier in Deutschland ist es leider so, dass Sicherheit nur Menschen bekommen, die der weißen, deutschen Mehrheitsgesellschaft angehören. Das sage ich, weil wir wissen: Seit den 1980er-Jahren werden immer wieder unsere Menschen in ihrem Alltagsleben ermordet, manchmal sogar am helllichten Tag. Manchmal war sogar die Polizei nebenan. Und das zeigt mir, dass wir in komplett unsicheren Verhältnissen leben.«
May Ayim »deutschland im herbst«
es ist nicht wahr
daß es nicht wahr ist
so war es
erst zuerst dann wieder
so ist es
kristallnacht:
im november 1938
zerklirrten zuerst
fensterscheiben
dann
wieder und wieder
menschenknochen
von juden und schwarzen und
kranken und schwachen von
sinti und roma und
polen von lesben und
schwulen von und von
und von und von
und und
erst einige dann viele
immer mehr:
die hand erhoben und mitgemacht
beifall geklatscht
oder heimlich gegafft
wie die
und die
und der und der
und der und die
erst hin und wieder
dann wieder und wieder
schon wieder?
ein einzelfall:
in november 1990 wurde
antonio amadeo aus angola
in eberswalde
von neonazis
erschlagen
sein kind kurze zeit später von einer
weißen deutschen frau
geboren
ihr haus
bald darauf
zertrümmert
ach ja
und die polizei
war so spät da
daß es zu spät war
und die zeitungen waren mit worten
so sparsam
daß es schweigen gleichkam
und im fernsehen kein bild
zu dem mordfall
zu dem vorfall kein kommentar:
im neuvereinten deuschland
das sich so gerne
viel zu gerne
wiedervereinigt nennt
dort haben
in diesem und jenem ort
zuerst häuser
dann menschen
gebrannt
erst im osten dann im westen
dann
im ganzen land
erst zuerst dann wieder
es ist nicht wahr
daß es nicht wahr ist
so war es
so ist es:
deutschland im herbst
mir graut vor dem winter
daß es nicht wahr ist
so war es
erst zuerst dann wieder
so ist es
kristallnacht:
im november 1938
zerklirrten zuerst
fensterscheiben
dann
wieder und wieder
menschenknochen
von juden und schwarzen und
kranken und schwachen von
sinti und roma und
polen von lesben und
schwulen von und von
und von und von
und und
erst einige dann viele
immer mehr:
die hand erhoben und mitgemacht
beifall geklatscht
oder heimlich gegafft
wie die
und die
und der und der
und der und die
erst hin und wieder
dann wieder und wieder
schon wieder?
ein einzelfall:
in november 1990 wurde
antonio amadeo aus angola
in eberswalde
von neonazis
erschlagen
sein kind kurze zeit später von einer
weißen deutschen frau
geboren
ihr haus
bald darauf
zertrümmert
ach ja
und die polizei
war so spät da
daß es zu spät war
und die zeitungen waren mit worten
so sparsam
daß es schweigen gleichkam
und im fernsehen kein bild
zu dem mordfall
zu dem vorfall kein kommentar:
im neuvereinten deuschland
das sich so gerne
viel zu gerne
wiedervereinigt nennt
dort haben
in diesem und jenem ort
zuerst häuser
dann menschen
gebrannt
erst im osten dann im westen
dann
im ganzen land
erst zuerst dann wieder
es ist nicht wahr
daß es nicht wahr ist
so war es
so ist es:
deutschland im herbst
mir graut vor dem winter
IN: MAY AYIM. »BLUES IN SCHWARZ WEISS & NACHTGESANG«. ZULETZT ERSCHIENEN IN: UNRAST VERLAG, 2021.
Musikvideos
Musikvideo: Advanced Chemistry – Fremd im eigenen Land
Musikvideo: Microphone Mafia – Denkmal
Musikvideo: Apsilon – Köfte
MAKING OF
Interview mit dem Regisseur Nuran David Calis und der Dramaturgin Stawrula Panagiotaki
Team
REGIE: Nuran David Calis
BÜHNE: Anne Ehrlich
KOSTÜME: PATRICIA RUSZKIEWICZ
MUSIK: Vivan Bhatti
VIDEO & INTERVIEWS: KARNIK GREGORIAN & Nazgol Emami
LICHT: JAN STEINFATT
DRAMATURGIE: Stawrula Panagiotaki
Impressum
Die Interviews wurden geführt mit:
İmran Ayata
Deutscher Schriftsteller und Campaigner. Der studierte Politikwissenschaftler ist Mitbegründer von »Kanak Attak«. Gemeinsam mit Bülent Kullukcu gab er die CD Compilations SONGS OF GASTARBEITER VOL. 1 und 2 heraus.
Manuela Bojadžijev
Professorin am Institut für Europäische Ethnologie und dem Berliner Institut für Migrationsforschung (BIM) an der HU Berlin. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit bilden unter anderem Rassismus- und Migrationstheorie sowie die Erforschung globalisierter und digitaler Kulturen. Sie ist Mitbegründerin von »Kanak Attak« in Deutschland.
Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler
Deutscher Rechtsanwalt und Buchautor. In den 1990er Jahren Bundesvorstandsmitglied der FDP und Ehrenvorsitzender der Liberalen Türkisch-Deutschen Vereinigung. Ab 2012 Arbeit als Vertreter der Nebenklage im NSU-Prozess. Seit 2022 ist er Antiziganismus-Beauftragter der deutschen Bundesregierung.
Konstantin von Notz
Gebürtiger Möllner, Jurist und Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags, seit 2013 stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, seit 2017 Stellvertretender Vorsitzender und seit 2022 Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes (PKGr).
Omid Nouripour
Deutscher Politiker (Bündnis 90/Die Grünen), der zusätzlich iranische Staatsangehörigkeit besitzt. Seit 2006 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2022 gemeinsam mit Ricarda Lang Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Massimo Perinelli
Historiker und Referent für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Mitbegründer der Initiative»Keupstraße ist überall« und hat das Tribunal NSU-Komplex auflösen mitinitiiert. Er hat zu Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte sowie zu Rassismus und migrantischen Kämpfen publiziert. Gemeinsam mit Lydia Lierke ist Perinelli Herausgeber von ERINNERN STÖREN – DER MAUERFALL AUS MIGRANTISCHER UND JÜDISCHER PERSPEKTIVE (Verbrecher Verlag 2020).
Annette Ramelsberger
Journalistin, arbeitete für die Berliner Zeitung, den Spiegel und aktuell für die Süddeutsche Zeitung als Gerichtsreporterin. 1999 erhielt sie den Theodor-Wolff-Preis. Für ihre Berichterstattung über den NSU-Prozess wurde sie 2014 in der Kategorie »Reporter« als Journalistin des Jahres ausgezeichnet. Außerdem bekam Annette Ramelsberger 2019 den Henri Nannen Preis in der Kategorie »Sonderpreis« für ihre Berichterstattung über den NSU-Prozess.
Hans-Christian Ströbele
Deutscher Rechtsanwalt und Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen. 2002 bis 2009 war er stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion und dienstältestes Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages zur Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes.
Katharina Warda
Soziologin und Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Autorin mit Schwerpunktthemen Ostdeutschland, marginalisierte Identitäten, Rassismus, Klassismus und Punk. In ihrem Projekt DUNKELDEUTSCHLAND erkundet sie die Nachwendezeit von den sozialen Rändern aus und beleuchtet blinde Flecken in der deutschen Geschichtsschreibung, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen als Schwarze ostdeutsche Frau in der DDR und nach 1989/90.
Prof. Dr. Matthias Quent
Deutscher Soziologe, Rechtsextremismusforscher und Hochschullehrer in Magdeburg. Er ist Gründungsdirektor des »Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft« in Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Rechtsradikalismus, Radikalisierung und Hasskriminalität.
Kutlu Yurtseven
Rappt seit 1989 bei der Kölner Gruppe »Microphone Mafia«. Mit Esther Bejarano verbindet ihn eine lange künstlerische und freundschaftliche Zusammenarbeit. Yurtseven arbeitet als Ganztagskoordinator und Sozialarbeiter und ist Mitwirkender bei der Keupstraßen-Trilogie am Schauspiel Köln.
Cem Özdemir
Deutscher Politiker bei der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Nach der Wahl 1994 zog Özdemir erstmals in den Bundestag ein und war mit der Sozialdemokratin Leyla Onur die ersten Bundestagsabgeordneten mit türkischen Eltern. Seit Dezember 2021 ist er Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft im Kabinett Scholz.