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PROGRAMMHEFT

KIM JIYOUNG,
GEBOREN 1982

82년생 김지영

Von Cho Nam-Joo
Deutsch von Lee Ki-Hyang
In einer Fassung von Marie Schleef
Depot 2
Deutschsprachige Erstaufführung: 14. Oktober 2023
Bühnenrechte:
Rowohlt Theater Verlag, Hamburg
ca. 1 h 40 Min. • ohne Pause
Copyright: Produktion

INHALTSVERZEICHNIS

Stimme Psychiater: Nikolaus Benda
STATISTERIE IN WECHSELNDER BESETZUNG:
NEXT GENERATION:
NINA JAUNICH • SWAANTJE REICHSTEIN

OLDSCHOOL:
JANE DUNKER • GISELA PFLUGHAUPT

UND: ELSALAM YOHANES • ADA EZE • ZOË CAMARA • NADINE KUBITZA • MARILENE MOSTERT • LEILA SCHWARZ • TARIK TEKLU • TAMARA EBNER
Copyright: Produktion

Team

REGIE & FASSUNG: MARIE SCHLEEF
Bühnenbild & Übertitel: SEONGJI JANG
KOSTÜME: JI HYUNG NAM
LIVE-MUSIK: JAE A SHIN
LICHT: JÜRGEN KAPITEIN
KÖRPERTRAINING: ARZU ERDEM-GALLINGER
DRAMATURGIE: SIBYLLE DUDEK

REGIEASSISTENZ: Lidia Polito • BÜHNENBILDASSISTENZ: Aline Larroque • KOSTÜMASSISTENZ: Carolyn Winkels & Clara Bohnen • INSPIZIENZ: Charlotte Bischoff • SOUFFLAGE: Andrea Voß • REGIEHOSPITANZ: Sarah Shirvani Zadeh • Schülerpraktikantin: Shirin Dane Agha • BÜHNENBILDHOSPITANZ: Adrienne Ryba • BÜHNENTECHNIK: Simon Graf, Peter Zillinger • BELEUCHTUNGSEINRICHTUNG: Frédéric Dériaz, Hagen Ungewitter • TONTECHNIK: Axel Block, Julia Spang • VIDEO: Jörg Follert, Viktor Rosengruen • PRODUKTIONSLEITUNG: Oliver Haas, Petra Möhle, Jan Müller • STELLVERTR. LTG. WERKSTÄTTEN: Ilya Pfaller • DEKORATIONSAUSFÜHRUNG: Martin Arenz, Florian Hohenkamp, Frank Hohmann, Boris Thelen, Daniel Vogt, Wencke Wesemann • KOSTÜMAUSFÜHRUNG: Elisabeth Huber, Simone Gartner-Brochhaus, Elisabeth Schmaske • SCHUHMACHEREI: Daniela Ehrich, Katrin Mikoleiczik • PUTZMACHEREI: Chiara Langanke • KOSTÜMMALEREI: Gudrun Fuchs, Marja Adade • ANKLEIDER*INNEN: Philipp Ebert, Julita Vescovi-Büchel • MASKENBILD: Bettina Kohlhaas, Birgit Riedl und, Katya Schmidt • REQUISITE / EFFEKTE: Lena Bornträger, Jörg Schneider

ÜBER den Roman & CHO NAM-JOO

Wenn literarische Werke nach ihren Protagonist*innen benannt sind, handelt es sich meist um held*innenhafte und außergewöhnliche Charaktere. Held*innen zeichnen sich durch kühne und tapfere Taten aus, nicht selten sind sie »edler Abstammung« (Definition Duden). Dies alles trifft auf Kim Jiyoung, die Titelfigur des Romans der koreanischen Autorin Cho Nam-Joo, keinesfalls zu. Kim ist der häufigste Nachname in Korea, der Vorname Jiyoung nimmt in ihrem Geburtsjahrgang 1982 die Spitzenposition ein. Und so wie ihr Name ist auch Kim Jiyoungs Leben lange Zeit vor allem eins: unauffällig. Sie wohnt mit ihrer Tochter und ihrem Mann in einer Neubausiedlung am Rande von Seoul. Ihre Berufstätigkeit gibt sie auf, als sie Mutter wird. Es sind lange Tage, die sie alleine mit dem Kind verbringt. Ihr Mann kommt meist erst in der Nacht heim. Eine ganz gewöhnliche Frauenbiographie, wie es sie weltweit millionenfach gibt. Nur dass Kim Jiyoung, 33 Jahre alt, plötzlich durch sonderbares Verhalten auffällt. Sie spricht mit fremden Stimmen, nimmt die Identität von Frauen aus ihrem Umfeld an, redet wie ihre eigene Mutter oder wie eine verstorbene Studienkollegin. Die Situation eskaliert auf einem Familienfest, denn Kim Jiyoungs Verhalten ist unerhört, sie erhebt die Stimme – auch wenn es nicht die eigene ist – gegen ihre Schwiegereltern und übt Kritik. Ihr Mann sucht einen Psychiater auf, zu dem Kim Jiyoung in Behandlung kommt. Was stimmt nicht mit ihr?
In nüchterner Sprache erzählt der Roman von Kim Jiyoungs Leben von 1982 bis 2015. Geschildert werden Erfahrungen, die Mädchen und Frauen in Korea und an vielen Orten der Welt machen. Sie handeln von struktureller Benachteiligung in einer patriarchalen Gesellschaft, von Anfeindungen, Barrieren, Unfreiheiten, von alltäglicher Diskriminierung. Es fängt schon mit ihrer Geburt an: Die große Freude bleibt aus, denn Jiyoung ist eben nicht der ersehnte Junge. In der Familie wird der jüngere Bruder bevorzugt. Als ein Mitschüler sie belästigt, macht ihr Vater ihr Vorhaltungen. Im hart erkämpften Beruf steigen die männlichen Kollegen auf, während die Mitarbeiterinnen aufgrund des »Schwangerschaftsrisikos« eine Randposition zugewiesen bekommen. Und mit ihrem Mutterwerden scheidet Kim Jiyoung ganz aus der Berufswelt aus und findet keine Möglichkeit, zurückzukehren. Es ist nicht ihr individuelles Schicksal, das Kim Jiyoung »verrückt« werden lässt und auch nicht ein traumatischer Vorfall. Es ist die Summe all dieser Erfahrungen. Die starren Rollenbilder und Machtverhältnisse schreiben sich bis in die intimsten Bereiche ein und werden internalisiert. Kim Jiyoung ist keine geborene Rebellin, sie ist gewohnt, bei Benachteiligungen ihre Verärgerung im Keim zu ersticken. Die Sonderbehandlung ihres Bruders nimmt sie kaum wahr – »einfach weil es immer so gewesen ist«. Den Zurückweisungen in der Arbeitswelt begegnet sie, in dem sie »ihre eigenen Ansprüche nach unten korrigiert«. Und als sie hört, wie ein Mann im Park in abfälliger Weise über Mütter spricht und sie mit Parasiten vergleicht, die sich auf Kosten ihrer Männer ein angenehmes Leben machen, reagiert sie nicht mit nach außen gerichteter Wut, sondern erlebt es als Erschütterung ihrer Existenz: »Ich habe ein Kind geboren, unter Schmerzen, und wäre beinahe daran gestorben. Ich habe auf mein Leben, meine Träume, meine Zukunft, ja mein ganzes Selbst verzichtet, um das Kind zu erziehen. Und dann bin ich plötzlich Ungeziefer. Was soll ich denn jetzt machen?«

Südkorea hat in den letzten Jahrzehnten einen beispiellosen Wandel erlebt. Innerhalb von weniger als 50 Jahren wurde aus einem armen, kriegszerstörten Entwicklungsland eine hochmoderne Industrienation, aus einer brutalen Militärdiktatur ein demokratischer Verfassungsstaat.[1] Heute ist Südkorea die zwölftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Hohe Investitionen in Forschung und Technologie haben das Land führend im Bereich der Digitalisierung werden lassen.[2] Das Wirtschaftswachstum hat auch zu einem Anstieg der Einkommen und des Lebensstandards geführt. So ist auch die Familiengeschichte der Kims im Roman durchaus repräsentativ und lässt sich als sozialer Aufstieg erzählen: Bei Jiyoungs Geburt 1982 wohnt die sechsköpfige Familie noch in einer 40-Quadratmeter großen Wohnung. Die Mutter hat nur die Grundschule durchlaufen, musste ihren Eltern zur Hand gehen und als Ungelernte dazuverdienen. Jiyoung wohnt hingegen mit ihrer Kleinfamilie in einer 80-Quadratmeter-Wohnung. Sie ist bestens ausgebildet, hat studiert und in ihrem Beruf gearbeitet. Nur hilft ihr das nicht – spätestens jetzt, als Mutter, wird sie aussortiert. Tatsächlich ist Mutterschaft in vielen Ländern – so auch in Deutschland – häufig ein Punkt, an dem Frauen strukturelle Benachteiligung erleben. Neben dem inzwischen geläufigen Gender-Pay-Gap existiert ein eklatanter Gender-Care-Gap. Noch immer sind es vorwiegend Frauen, die sich »kümmern«[3]: um Kinder, alternde Eltern, darum, dass es in der Familie und dem Umfeld allen gut geht. Die Soziologin Franziska Schutzbach hat es in ihrem Buch DIE ERSCHÖPFUNG DER FRAUEN so beschrieben: »Frauen werden nicht einfach als Menschen betrachtet, von ihnen wird nach wie vor erwartet, dass sie gebende Menschen sind. Sie schulden anderen unterschiedliche Arten der Unterstützung, auch solche, die über Familien- und Hausarbeit hinausreicht: Bewunderung, Liebe, Wohlwollen, Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Mitgefühl. Oder Sex.«[4]

Cho Nam-Joo fügt der Geschichte Kim Jiyoungs mehrere Fußnoten hinzu, sie benennt Statistiken und Forschungsergebnisse, die bedrückend sind: Anfang der 90er Jahre erblickten in Südkorea bei Drittgeborenen doppelt so viele Jungen wie Mädchen das Licht der Welt – aufgrund der hohen Zahl abgetriebener weiblicher Föten. Auch Jiyoungs kleine Schwester wird als 3. Mädchen der Familie abgetrieben. Ihre Mutter »wimmerte wie ein Tier, das sein Junges verloren hatte« – Mitleid bekommt sie in der Familie nicht.
2005, als Jiyoung ihr Studium beendet, liegt die Frauenquote in Unternehmen bei 29,6 Prozent. Im letzten Jahr (2022) landete Südkorea im »Gender Gap Report« des World Economic Forum auf dem 99. Platz von 146 Ländern.[5] Und es ist nicht nur das berufliche Weiterkommen, um das sich Frauen und Mädchen sorgen müssen. Die Zahlen der Femizide, Gewalttaten gegen Frauen und Stalking-Fälle sind erschreckend hoch in Südkorea.[6]

2016 drückte Cho Nam-Joo im Nachwort zum Roman ihre Hoffnung aus, ihrer kleinen Tochter möge es einmal besser gehen: »Ich glaube, die Welt, in der sie leben wird, wird besser sein als meine, und dafür kämpfe ich. Ich hoffe, alle Töchter dieser Welt können noch größer, höher und weiter träumen.«
2022 wurde in Korea der konservative Politiker Yoon Suk-yeol zum neuen Präsidenten gewählt. Schon im Wahlkampf suchte er die Nähe zu antifeministischen Gruppierungen. Er kündigte an, umgehend das Ministerium für Gleichberechtigung abzuschaffen.

Der Artikel ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft von der Dramaturgin Sibylle Dudek.

Über Cho Nam-Joo

Die südkoreanische Autorin Cho Nam-Joo wurde 1978 in Seoul geboren. Sie arbeitete mehrere Jahre als Drehbuchautorin fürs Fernsehen. Ihr Roman KIM JIYOUNG, GEBOREN 1982 wurde weltweit über zwei Millionen Mal verkauft und inzwischen verfilmt.
In Korea ist das Buch kontrovers aufgenommen worden. Es löste Zuspruch, zahlreiche Debatten, aber auch Proteste aus. Prominente, die von ihrer Lektüre des Buches erzählten, wurden öffentlich angefeindet.
Fussnoten
[1] Koreas Aufstieg. Auf dem Höhenflug. Artikel von Hanns Günther Hilpert im Tagesspiegel vom 25.03.2014 https://www.tagesspiegel.de/wissen/auf-dem-hohenflug-4815223.html, letzter Zugriff 30.09.2023

[2] Länderbericht Südkorea. Forschung. Wissen. Innovation. https://www.kooperation-international.de/laender/asien/republik-korea-suedkorea, letzter Zugriff 30.09.2023

[3] Darüber Auskunft gibt zum Beispiel die aktuelle Vermächtnisstudie von DIE ZEIT und dem WZB https://www.zeit-verlagsgruppe.de/wp-content/uploads/2023/05/Ergebnisse-aus-der-Vermaechtnisstudie-2023_Presse_Langversion-1.pdf, letzter Zugriff 30.09.2023

[4] Franziska Schutzbach: Die Erschöpfung der Frauen. Wider der weiblichen Verfügbarkeit. München 2021

[5] Global Gender Gap Report https://www.weforum.org/reports/global-gender-gap-report-2022/, letzter Zugriff 12.10.2023

[6] Vom Objekt zur Konkurrentin. https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/korea-sued-frauenrechte-femizide-gleichberechtigung-abschaffung-gleichstellungsministerium, letzter Zugriff 12.10.2023
Copyright: Produktion

ZITATE AUS DEM ROMAN

»Korea wandelte sich nach dem Krieg in rasantem Tempo von einem traditionellen Agrarstaat zu einer Industrienation. Jeder war überzeugt, es sei Aufgabe der Söhne, für die Familie zu sorgen, und das Glück und der Erfolg aller lägen in ihren Händen.«

»Tatsächlich hatte Jiyoung als Mädchen gar nicht wahrgenommen, dass ihr Bruder eine Sonderbehandlung bekam, und war daher nie neidisch auf ihn gewesen. Einfach weil es immer so gewesen war.«

»Sie war zwar nicht in der Lage, genau zu formulieren, welche [Handlungen des Lehrers] sie störten und was daran falsch war, aber sie fühlte sich niedergeschlagen und ungerecht behandelt. Da sie aber nicht daran gewöhnt war, ihre eigene Meinung offen zu äußern, kamen auch Klagen nicht so ohne Weiteres über ihre Lippen. Sie hörte nur den anderen zu und nickte zustimmend.«

»Jiyoung weinte nicht, als sie dem Firmenchef ihre Kündigung mitteilte, auch nicht, als ihre Vorgesetzte ihr sagte, sie würde gern irgendwann wieder mit ihr zusammenarbeiten. Sie weinte auch nicht, als sie Stück um Stück ihre persönlichen Sachen einpackte und mit nach Hause nahm. Weder weinte sie auf der Abschiedsparty noch an ihrem letzten Arbeitstag.«

»Jiyoung wurde gelegentlich zu einer anderen Person. Manche dieser Personen lebten noch, manche waren bereits tot. Alle waren Frauen aus ihrem unmittelbaren Umfeld. Nach eingehender Beobachtung lässt sich sagen, dass sie damit keinen Scherz trieb oder sich damit einen Vorteil verschaffen wollte. Ihr Unterbewusstsein ließ sie voll und ganz zu diesen Personen werden.«

DIE MITWIRKENDEN IM GESPRÄCH

KIM JIYOUNG, GEBOREN 1982
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DIE AUTORIN ÜBER IHREN ROMAN

»MEIN BUCH IST MUTIGER ALS ICH SELBST«

Wie war die Reaktion auf das Buch in Südkorea?
Die Leser*innen sagten, sie könnten sich wirklich in die Geschichte hineinversetzen – Frauen beschrieben es wie ihr eigenes Leben. Es gab einige Fälle, in denen Prominente [online] angegriffen wurden, weil sie das Buch gelesen hatten. Das Buch bot Gelegenheit zu einer öffentlichen Debatte, und ich bin stolz darauf, einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben.
Wie hat sich die ­MeToo-Bewegung in Südkorea entwickelt?
Im Mai 2016 wurde eine Frau am Bahnhof Gangnam ermordet, und im Oktober desselben Jahres gab es eine Reihe von Skandalen wegen sexueller Belästigung in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, darunter auch in der Literatur und in der Kunst. Die Menschen begannen, über die Schrecken und Bedrohungen zu sprechen, denen Frauen ausgesetzt sind – was zuvor nicht zur Sprache gekommen war. Dann beteiligte sich eine Staatsanwältin, Seo Ji-hyeon, an der #MeToo-Bewegung und erzählte, was sie erlebt hatte [in einem Interview im koreanischen Fernsehen sprach Seo über ihre Erfahrung, am Arbeitsplatz sexuell belästigt worden zu sein, eine Enthüllung, die andere Frauen veranlasste, sich zu melden].
Sehen Sie, dass sich die Dinge geändert haben – oder sind junge Frauen heute noch mit denselben Problemen konfrontiert?
Es gibt immer noch sexuellen Missbrauch und Diskriminierung. Kürzlich wurde in den Nachrichten von einer Bewerberin berichtet, die keine Stelle bekam, weil die Beamt*innen sie schlechter bewerteten, nur weil sie eine Frau war. Aber es hat sich etwas getan. Frauen haben protestiert und Petitionen eingereicht; sie haben begonnen, sich solidarisch zu versammeln. Vor kurzem wurde entschieden, Abtreibung nicht länger als Verbrechen und als verfassungswidrig einzustufen. Auch wenn der Wandel langsam vonstatten geht, glaube ich, dass wir keinen Rückschritt machen werden.
Sie haben gesagt, dass Ihr Vater und Ihr Onkel vor Ihrer Geburt eine Abmachung getroffen haben: Wenn Sie ein Junge gewesen wären, hätte Ihr Onkel – der bereits fünf Töchter hatte – Sie als sein eigenes Kind angenommen. Wie fühlt es sich an, zu wissen, dass Sie vielleicht in einer anderen Familie aufgewachsen wären?
Eigentlich hat das für mich keine Rolle gespielt. Solange ich eine Frau war, spielte es keine Rolle, ob ich bei meinem Onkel oder meinem Vater lebte. Aber ich glaube, wenn ich als Sohn geboren worden wäre, hätte ich dieses Leben, die Welt, in der ich lebe, nicht auf die gleiche Weise verstehen können – wenn man als schwächerer Mensch lebt, sieht man die Welt viel umfassender.
War es üblich, dass eine Tochter und ein Sohn getauscht werden konnten?
In der Generation meiner Mutter war das häufiger der Fall. Als ich von diesem Pakt zwischen meinem Onkel und meinem Vater hörte, war ich wirklich überrascht. Aber wie ich im Buch erzähle, gab es diesen Trend, dass Frauen abtreiben ließen, wenn sie mit einem Mädchen schwanger waren – was in den 1980er und frühen 90er Jahren seinen Höhepunkt erreichte.
Der Roman hat sich millionenfach verkauft und wurde in 18 Sprachen übersetzt. Wie fühlt sich ein solcher weltweiter Erfolg an?
Als mein Roman verfilmt wurde, sagte die Regisseurin [Kim Do-young], sie habe das Gefühl, dass das Buch ein Eigenleben führe, und ich stimme ihr zu! Es ist fortschrittlicher und mutiger als ich selbst.
In dem Roman gibt es eine Szene, in der Frauen bei der Arbeit heimlich auf der Toilette gefilmt werden. Wie weit ist das in Korea verbreitet?
Früher gab es eine große Website, auf der Mitglieder illegale Aufnahmen austauschten, aber sie wurde 2016 geschlossen. Aber auch heute noch gibt es ständig Nachrichten über Leute, die bei illegalen Aufnahmen erwischt werden.
Der Regisseur von Parasite, Bong Joon-ho, sagte kürzlich: »Oberflächlich betrachtet scheint Korea ein sehr reiches und glamouröses Land zu sein ... aber der Unterschied zwischen Arm und Reich wird immer größer. Vor allem die jüngere Generation ist sehr verzweifelt.« Stimmen Sie dem zu?
Ja, ich glaube, dass die jüngere männliche Generation ein gewisses Gefühl des Verlustes hat, weil sie glaubt, dass sie im Vergleich zu früheren Generationen nicht so viel Macht, Kapital oder Möglichkeiten hat. Aber ich glaube, dass diese Männer die Frauen, die noch weniger Möglichkeiten haben, nicht herabsetzen sollten.
Warum ist die Geburtenrate in Südkorea sehr niedrig?
Die Immobilienpreise sind sehr hoch, und wir haben keine große Arbeitsplatzsicherheit. Für junge Leute ist es eine ziemliche Belastung, allein zu leben. Außerdem sind unsere Systeme für Leistungen wie Mutterschaftsurlaub nicht sehr gut, so dass es sowohl für Männer als auch für Frauen schwierig ist, Arbeit und Hausarbeit unter einen Hut zu bringen.
Sie sprechen über die Herausforderungen der Elternschaft – wie finden Sie es, Mutter zu sein?
In der koreanischen Gesellschaft werden Frauen, die Kinder großziehen, in der Regel nicht sehr wohlwollend betrachtet. In meinem Fall hatte ich nach einer Karriereunterbrechung wirklich keine Hoffnung, dass ich in mein Arbeitsleben zurückkehren könnte. Ich hatte eine harte Zeit. Aber wenn sich unsere gesellschaftliche Struktur ändert, so dass wir alle mehr Wert auf die Kindererziehung legen, können wir meiner Meinung nach mehr Freude am Kinderkriegen haben.
Das Gespräch zwischen Cho Nam-Joo und der Journalistin Holly Williams erschien am 15.2.20 in »The Guardian«.
https://www.theguardian.com/books/2020/feb/15/cho-nam-joo-kim-jiyoung-born-1982-interview, letzter Zugriff: 12.10.2023
Es wurde für das Programmheft ins Deutsche übersetzt.

ÜBER DIE AKTUELLE POLITISCHE SITUATION IN SÜDKOREA

Soll das ein Joke(r) sein?

Von Sören Kittel
Artikel erschienen im fluter 20.12.2022

Gleichstellung in Deutschland

Ein Film von der Hans-Böckler-Stiftung
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Copyright: Produktion

Dank

Marie Schleefs herzlicher Dank gilt ihrer Freundin Lina Oanh Nguyen für die Inspiration, sich mit Kim Jiyoungs Geschichte zu beschäftigen.